Dechiffrieren für Anfänger

November 15, 2021 Off By BlauerEngel

Wenn man irgendwo mal die Gelegenheit hat, an einem schönen Tag durch ein altes Städtchen zu flanieren und sich die vielen, gut restaurierten Fachwerkhäuser anzuschauen, dann wird man an dem einen oder anderen sicher auch eine alte Hausschrift (auch Hausinschrift) entdecken. In der Regel sind diese Hausschriften vom Zimmerermeister, der das Haus erbaut hat, in die Schwelle des ersten Stocks – die sogenannte Stockschwelle – geritzt und dann ausgestemmt worden, mal mehr, mal weniger kunstfertig. Dass auch unsere alte Mühle eine solche Hausschrift besitzt, haben wir herausgefunden, als Klaus das Fachwerk der Giebelseite freigelegt hat. Vorher war der Text für Jahrzehnte unter Sauerkrautplatten verschwunden.

Natürlich wollen wir unbedingt wissen, was ein Zimmerermeister in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dort zu schreiben hatte. Meistens sind es Segenssprüche oder Ermahnungen, außerdem die Namen der Auftraggeber, der Name des Zimmerermeisters und die Jahreszahl der Fertigstellung des Fachwerks. Im 18. Jahrhundert, aus dem auch unsere Mühle stammt, wurden die Hausschriften an Wohnhäusern schon meistens in Deutsch geschrieben, früher und besonders an Sakralbauten war es üblich, Latein zu schreiben. Und da wir beide kein Latein sprechen, waren wir schon mal glücklich, dass die Mühle kein Sakralbau war…

Besonders leicht ist es bislang trotzdem nicht, den Text korrekt zu entziffern und auch zu verstehen, denn zum Einen ist es nicht gerade bequem, in zwei Metern Höhe auf einem schaukeligen Gerüst bei Wind und gefühlten -10 °C herauszufinden, welche Ritze in der Eichenschwelle natürlich und welche geschnitten und ausgestemmt ist, insbesondere, wenn noch Reste sechzig Jahre alter Fassadenfarbe oder von Verputz dran kleben. Zum Anderen sieht die Schriftart, die benutzt wurde, wie eine Mischung aus einer altdeutschen Schrift und Sütterlin aus, dazu wird in der Höhe der Buchstaben nicht zwischen Groß- und Kleinbuchstaben unterschieden und bis auf ein paar wenige Buchstaben gibt es keine Ober- oder Unterlänge (Minuskelschrift).

Der bekannte Begriff „Wikipedia“…

… könnte damit so aussehen:

Ungewohnt, oder? und wenn man sich das dann innerhalb eines satzes vorstellt, in dem nicht, wie gewohnt, substantive mit einem großbuchstaben beginnen, dann wird’s noch ungewohnter…

Das erste Gerüst- und Kälteproblem hatte Klaus damit gelöst, dass er die Stockschwelle in überlappenden Abschnitten von links nach rechts komplett fotografiert hat. Das ist das Foto, das den Abschluss der Hausschrift zeigt:

Naja, da ist auf Anhieb erst mal nicht viel zu erkennen außer ein paar Kratzern, Farb- und Verputzresten und den Nagellöchern, die beim Befestigen der Latten für die Sauerkrautplatten entstanden sind. Auf den zweiten Blick kann man dann am rechten Rand schon eine „6“ und eine „5“ oder eine „3“ erahnen und im Rest des Fotos etliche senkrechte und schräge Linien. Da aber das Auge sich sehr leicht von den unterschiedlichen Farben ablenken lässt, macht es Sinn, das Foto monochrom darzustellen, zum Beispiel in Sepia.

Jetzt lassen sich die eben schon erahnten Linien schon etwas deutlicher erkennen und man könnte darauf kommen, dass sich links von der recht deutlichen „6“ eine „7“ befindet und dass die letzte Ziffer tatsächlich eine „3“ und keine „5“ ist. Aber so richtig gut zu lesen ist die Schrift immer noch nicht. Also haben wir es noch mit Schwarz-weiß versucht.

Im Grunde ein ähnliches Ergebnis wie das in Sepia, und immer noch findet das Auge Stroh im alten Verputz, die Maserung der Eichenbalken oder schwarze Löcher, statt sich auf die Schrift zu konzentrieren. Und wie kann man das Auge davon abbringen, sich von Erwartetem ablenken zu lassen und nach unerwarteten, Bekanntem ähnlichen Strukturen zu suchen? Indem man aus schwarzen Löchern weiße macht! Und dazu invertiert man die Graustufen – schwarz wird weiß, weiß wird schwarz, hellgrau wird dunkelgrau, dunkelgrau wird hellgrau. Das Auge kann sich besser auf die Schrift konzentrieren.

Und bei großer Vergrößerung des Fotos kann man sogar die Schnitte, die ein Messer im Eichenholz hinterlassen hat, und die Spuren des Beitels, der die Schnitte verbreitert hat, erkennen.

Natürlich dauert es dann schon noch eine ganze Weile, bis die einzelnen Buchstaben und Ziffern in einem Foto enträtselt sind und einen Sinn ergeben. Aber der Aufwand lohnt sich! Denn entgegen der Angabe in der Denkmaltopografie der Stadt Lauterbach, in der das Jahr der Erbauung der Schlagmühle mit 1756 angegeben ist, scheint unser Schätzchen doch noch ein wenig jünger zu sein und aus dem Jahr 1763 zu stammen. Außerdem scheint, wenn die Schrift auf diesem einen Foto komplett dechiffriert ist, der Zimmerermeister aus dem Lauterbacher Stadtteil Maar zu stammen.

Erkennbare Inschrift: „von Maar anno 1763“

Tja, damit stammt unsere Mühle wohl nicht mehr aus dem Jahr, in dem Mozart geboren wurde… Aber 1763 endete der Siebenjährige Krieg, es ist das einzige Jahr, in dem das Intelligenz- und Zeitungsblatt von Hessen erschien und in dem Alvise Mocenigo IV. zum Dogen von Venedig gewählt wurde, nämlich am 19. April…

Wir sind gespannt, was wir an überraschenden Texten noch auf den anderen Fotos oder auf der Schwelle selbst finden werden!

Noch ein paar Gedanken, die bei der weiteren Dechiffrierung helfen könnten:

  • Wenn in alten Zeiten Mühlen erbaut wurden, dann wurden sie in der Regel vom (adligen) Grundbesitzer oder vielleicht auch der Stadt oder dem Dorf erbaut. Das könnte heißen, dass es auch bei der Schlagmühle so war und somit als Bauherr eventuell kein Ehepaar genannt wird. Vielleicht wird nur der Zimmerermeister erwähnt.
  • Aus dem gleichen Grund könnte auch ein Segensspruch fehlen, dafür die (Adels-)Linie des Grundbesitzers erwähnt sein, das wären dann vermutlich die Riedesel zu Eisenbach.

Aber so weit sind wir noch nicht. Sobald wir die komplette Hausschrift dechiffriert haben, gibt’s mit Sicherheit einen Blogbeitrag dazu