Erinnerungen an die Kindheit

Juni 20, 2021 Off By BlauerEngel

Ab einem bestimmten Alter sind Kindheitserinnerungen immer begleitet von Gedanken darüber, wie alt man denn schon geworden ist oder wie alt man sich fühlt. Diese Gedanken müssen aber nicht unbedingt negativ sein, bei mir geht es meist eher in die Richtung „Mensch, hab‘ ich im Leben schon viel erreicht und erlebt!“ Und in meinem Alter kommen diese Kindheitserinnerungen immer öfter daher, dass aus dem einen oder anderen Grund ein Haushalt aufzulösen ist, was auch nicht immer negativ sein muss. Manchmal geht einfach irgendwo für jemanden ein Lebensabschnitt zu Ende und ein anderer beginnt.

Gerade dann, wenn der Haushalt einer Mutter, Schwiegermutter, Oma oder Tante aufzulösen ist, wird man geradezu überschwemmt von Erinnerungen an die eigene Kindheit. Mir ging es gerade mal wieder so, als ich den Inhalt einer „Handarbeits-Schublade“ vor mir liegen hatte, um durchzusehen, was von den vorhandenen Materialien ich für mein frisch erworbenes Interesse am Nähen noch gut gebrauchen könnte.

Es liegt für mich in solch einer Aktion nicht nur Nostalgie. Es ist auch immer eine Portion Ehrfurcht mit dabei. Gerade bei Handarbeitssachen kann man sich so einiges über Leben und Schaffen einer (meistens) Frau (aus)denken.

Die Schachtel mit dem ordentlich sortierten Wollgarn und dem Stopfpilz sagt mir beispielsweise, dass hier jemand am Werk war, die Strümpfe und Socken selbst gestrickt hat oder geschenkt bekam und dass diese Strümpfe und Socken wertvoll waren – so wertvoll, dass sie ordentlich gestopft und dann weiter getragen wurden. Meine Oma und meine Mutter haben früher, wenn nach mehrmaligem Stopfen die Löcher in den Wollsocken zu groß wurden, den Fuß abgeschnitten, die Maschen aufgefangen und an den übrig gebliebenen Hals in ähnlicher Farbe wieder einen neuen Fuß angestrickt.

Wer macht sich diese Arbeit denn heute noch? Ich habe selbst noch gestrickte Socken von meiner Oma in der Schublade. Wenn die irgendwann mal Löcher haben, habe ich dann die Zeit, sie zu stopfen oder neue Füße dran zu stricken? Oder kaufe ich dann neue?

Dann das Handarbeitskästchen mit dem Nähgarn – da kann man sich wirklich viele Gedanken drüber machen. Klar, das hat jemandem gehört, die aufgegangene Nähte und Risse in der Kleidung geflickt hat. Und vermutlich nicht nur in der Kinderkleidung, sondern auch in der eigenen.

Wer unter vierzig hat denn zuhause oder in der Schule noch gelernt, Flicken auf- oder einen Reißverschluss einzunähen? Ist doch alles viel schneller neu gekauft. Das alte Zeugs ist doch eh nach einem halben Jahr nicht mehr in Mode! Und die unterbezahlten Näherinnen in Bangladesch oder Myanmar können doch auch viel besser nähen…

Interessant ist es auch, sich die Farben des Nähgarns anzuschauen. Unglaublich, wie viele unterschiedliche Dunkelblau-Töne es gibt! Die wurden wohl meistens für die Herrenkleidung gebraucht. Die Rosa-, Lila-, Türkis- und Lindgrün-Garnrollen wurden dann doch eher für die Damen- und Kinderkleidung benutzt. Aber wofür das rosa Glitzergarn wohl benötigt wurde?

Und dann kommt, wie erwartet, das allerbeste in jeder Handarbeitsschublade: Die Blechdose!

Schon das Rappeln und Klappern beim Herausnehmen lässt kindliche Vorfreude in mir aufkommen. Ja, es muss unbedingt immer eine Blechdose sein! Nichts anderes kann diesen vertrauten Klang erzeugen. Und fast immer ist es eine Konfekt-, Plätzchen- oder Lebkuchendose, die haben die richtige Größe. Denn es musste schon einiges hineinpassen: Knöpfe in allen Farben, Formen und Größen!

Wie oft habe ich bei Oma in der Wohnküche am Tisch gesessen und gefragt: „Oma, kann ich die Dose mit den Knöpfen haben?“ Dann dieses Geräusch, das Rappeln hunderter Knöpfe in der Lebkuchendose! Und immer wieder die Frage „Welcher Knopf ist der schönste?“ Oder der größte, oder der bunteste, von welchen Knöpfen sind am meisten gleiche in der Dose? Mit wieviel Geduld und Hingabe ein Kind (und nicht nur Mädchen – nicht wahr, Bruderherz?) in einer Dose voller Knöpfe suchen und wühlen kann, ist schier unglaublich!

Ich kann jeden nur bedauern, der nie unter all den gesammelten und vermutlich auch ererbten Kleidungsverschlussstücken DEN wunderbar silbern glänzenden Knopf mit dem Hirschen drauf gefunden hat, während die Oma am Herd Kuchen gebacken oder Pudding gekocht hat! Mir solch eine Blechdose anzuschauen, versetzt mich unverzüglich um 45 Jahre zurück und ich kann nicht verhindern, dass ich gleich wieder nach dem schönsten Knopf suche. Vielleicht finde ich den silbernen Hirschen ja noch…