Waldgeist in Not

Dezember 1, 2020 Off By BlauerEngel

Es war schon ein wenig verhext, gestern Abend…

Wir mussten zum Tierarzt nach Herbstein, weil der alte Pablo seit Samstagmorgen nach dem Fressen immer wieder gekübelt hat. Wir hatten es zwar bis gestern Nachmittag schon wieder einigermaßen im Griff, aber um sicher zu gehen, dass ihm nichts Schlimmeres fehlt, sind wir dann für 18:00 Uhr in die Praxis gefahren. Glücklicherweise hat der Tierarzt erst mal nichts festgestellt, aber um Nierenprobleme auszuschließen, hat er ihm nochmal Blut abgenommen.

Für’s erste erleichtert sind wir dann ins Auto gestiegen und wieder nach Hause gefahren, Klaus am Steuer, Pablo (im Katzenkorb) und ich (zu seiner und meiner Beruhigung) auf dem Rücksitz. Kurz vor der Abfahrt nach Frischborn glitt plötzlich ein geisterhafter weißer Schemen von vorne links auf das Auto zu, da tat es auch schon einen heftigen Schlag. „Sch…, eine Eule!“ „Was…, was war das?“ „Mensch, wir haben gerade eine Eule angefahren, dreh um!“ Also haben wir auf dem Parkplatz der Zentralstation gedreht und sind mit Warnblinker zurück gefahren. Und tatsächlich, mitten auf der Bundesstraße saß ein relativ kleiner und anscheinend erst einmal völlig paralysierter Eulenvogel, obwohl vor uns Autos an ihm vorbeibrausten und auch auch immer wieder welche entgegenkamen.

Natürlich haben wir gleich am Straßenrand das Auto und den Atem angehalten, denn hinter uns kam eine ganze Schlange weiterer Autos, von denen das vorderste aber glücklicherweise auf Klaus‘ Handzeichen hin ebenfalls anhielt. Also schnell den Kofferraum auf, Eulenvogel gegriffen, im Kofferraum abgesetzt und wieder Richtung Tierarzt in Herbstein durchgestartet. „Er lebt noch, ruf schnell beim Tierarzt an, vielleicht sind die noch da und wir können vorbei kommen!“ Als ob wir eine Wahl gehabt hätten, mit einem angefahrenen und vielleicht schwer verletzten Vogel im Kofferraum… Glücklicherweise ging beim zweiten Versuch auch noch jemand ans Telefon und wir durften nochmal in die Praxis kommen. „Aber informieren Sie auch den Jagdpächter, das ist sonst Wilderei.“ … „Tut mir Leid, mein Mann ist noch auf der Arbeit, aber ich sage ihm Bescheid, wenn er wieder da ist.“ „Ja, danke, und geben Sie ihm doch bitte auch meine Nummer weiter.“

Beim Tierarzt erwartete uns schon eine Tierarzthelferin mit dicken Handschuhen und ich dachte noch „Ach du meine Güte, und Klaus hat noch nicht einmal Einmalhandschuhe an.“

Aber erst im Behandlungsraum wurde der Vogel dann wieder munterer und zeigte dem Tierarzt erst einmal, wie groß die Flügelspannweite eines so kleinen Vogels sein kann, bevor er sich mit einem Fang an dessen Finger klammerte. Die Untersuchung ergab dann erst einmal keine spürbaren Brüche, aber leichte Probleme mit einem Fang und unterschiedliche Pupillenreaktionen. „Tut mir Leid, aber mehr kann ich nicht machen, Vögel sind nicht mein Fachgebiet.“ Also rief Klaus erst beim Tierheim in Lauterbach an (keiner da, kein Wunder, nach 19:00 Uhr), dann im Vogelpark in Schotten (dito) und bei einer Falknerei in Feldatal (auch kein Glück). „Dann müssen Sie ihn erst einmal mit nach Hause nehmen. Ich gebe Ihnen einen Katzenkorb mit.“ „Okay, rufen wir halt morgen früh nochmal im Vogelpark an. Dann bekommt er bei uns über Nacht einen ruhigen Platz und eine Schüssel Wasser. Vielen Dank, dass Sie sich den Vogel angeschaut haben!“

Zuhause angekommen verfrachtete Klaus das arme Tier erst einmal ins Gästezimmer, ließ den Rolladen runter und stellte eine Schüssel mit Wasser in den Katzenkorb. Kurz darauf rief auch schon der Jagdpächter zurück. „Das ist zwar nicht mein Revier, aber schön, dass sie nicht einfach weitergefahren sind und das arme Tier haben sterben lassen.“ „Um Himmels Willen, dann hätten wir die ganze Nacht nicht schlafen können. Das ist für uns selbstverständlich.“ „Mir fällt leider außer dem Vogelpark und der Falknerei auch kein anderer Platz ein, wo Sie den Vogel hinbringen könnten.“ „Kein Problem, der darf sich jetzt erst mal von dem Schreck erholen und morgen versuchen wir es nochmal beim Vogelpark.“ „Das ist gut, und geben Sie mir doch bitte Bescheid, was aus dem Vogel geworden ist.“ „Klar, das mache ich gerne.“

Ich hatte noch nicht aufgelegt, da klingelte Klaus‘ Handy – die Falknerei! „Natürlich können Sie den Vogel vorbeibringen, am besten gleich morgen früh. Wir sehen ihn uns an, und wenn es sein muss, rufen wir den Tierarzt vom Vogelpark dazu.“ Puh, wenigstens eine gute Nachricht noch am Abend! Trotzdem hatte Klaus eine unruhige Nacht, aus Sorge um den kleinen Eulenvogel – der sich übrigens nach Rückfrage bei einem befreundeten Wildvogelexperten als Waldkauz entpuppte. Ich hatte vorgesorgt und eine rosa Baldrian-Pille eingeworfen…

Dann heute Morgen, vorhergesagt und befürchtet, alles weiß draußen – Winteranfang im Vogelsberg. „Ich ruf‘ mal vorsichtshalber bei der Falknerei an, bevor wir losfahren.“ „Warten Sie lieber noch eine Stunde, hier ist gerade ein ziemliches Chaos auf der Straße.“ Nach einer Stunde: „Jetzt scheint’s besser zu laufen. Kommen Sie einfach und klingeln Sie kurz durch, wenn Sie da sind. Wir nehmen Vögel nur kontaktlos an – Sie wissen ja, wegen Corona.“ Also sind wir, mit dem sicher in einen Pappkarton umgesiedelten Waldkauz, über nicht, dreiviertel-, halb- und viertelgeräumte Straßen durch den halben Vogelsberg gefahren, um das arme Tier endlich in erfahrene Hände abzugeben. War glücklicherweise um diese Zeit nicht allzu viel Verkehr.

Vor der Falknerei respektive der Greifvogelwarte und – auffangstation Feldatal angekommen klingelte auch schon Klaus‘ Handy: „Sind Sie gerade hier bei uns vorbeigefahren?“ „Ja, wir sind ein bisschen zu weit gefahren, weil wir nicht genau wussten, wo wir den Vogel abstellen sollen.“ „Kein Problem. Da ist ein Tor mit einem Vordach, da können Sie die Kiste mit dem Vogel drunterstellen. Ich komme gleich und hole ihn ab.“

„Mach’s gut, kleiner Kauz! Und toitoitoi, dass dir nichts Schlimmes passiert ist! Auf jeden Fall bist du hier in guten Händen.“ Einen Umschlag mit einer Spende für die Pflege und die Behandlung des Waldkauzes hatten wir natürlich auch an den Karton geklebt. Wer weiß, wie oft der Tierarzt kommen muss und was so ein Tier alles frisst… Ein wenig erleichtert machten wir uns auf den nicht mehr ganz so schneeigen und eisigen Heimweg.

Wenig später rief auch schon die Greifvogelwarte an. „Wir haben ganz gute Nachrichten. Es ist nichts gebrochen, aber der Kauz ist stark unterernährt und hat einen Schock, vermutlich auch eine Gehirnerschütterung. Vielleicht ist auch das Rückgrat geprellt. Dass die Pupillenreflexe unterschiedlich waren und der eine Fang nicht richtig zugefasst hat, liegt wahrscheinlich am Schock. Den bekommen Eulenvögel, wenn sie zum ersten Mal einem Menschen begegnen und auch noch angefasst werden. Aber das gibt sich wieder. Wir behalten ihn jetzt da, setzen ihn zu einem einäugigen anderen Kauz und päppeln ihn erst einmal auf. Den Einäugigen können wir nicht mehr auswildern, aber Ihrer darf im Frühling wieder zurück in den Wald.“

In der Greifvogelwarte, so erzählte die nette Dame, seien in diesem Jahr sowieso sehr viele unterernährte Greifvögel und Eulen abgegeben worden. In Wald und Flur werden anscheinend die Mäuse knapp und Eulenvögel, Bussarde, Milane und Co finden nicht mehr genügend Nahrung. Die Nahrungsverknappung trifft also nicht nur unsere Insekten und Gartenvögel, sondern auch die nächsten in der Nahrungskette, die Greife und Eulen. Eventuell war „unser“ kleiner Waldkauz so hungrig, dass er gestern in der Dunkelheit, ohne auf seine Umgebung zu achten, über die Straße in Richtung einer Beutemaus geflogen und dabei gegen unser Auto geknallt ist…

Auf jeden Fall sind wir sicher, dass wir das Richtige getan haben und auch wieder tun würden. Und jetzt rufe ich noch den Jagdpächter an, um ihm die gute Nachricht weiterzugeben. Und Klaus hat für das nächste Jahr schon „Eulen in der Dämmerung“ in der Greifvogelwarte gebucht…